Aumüller: Das Schachspiel in der europäischen Literatur
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Produktinformationen "Aumüller: Das Schachspiel in der europäischen Literatur"
Rezension von Martin Malinowski im Mai 2025
Berücksichtigt man nur den Titel des Buches und erwartet eine umfassende Behandlung literarischer Werke, die das Thema “Schach” beinhalten, wird man vielleicht enttäuscht sein, denn Aumüllers Zeithorizont endet schon in der Frühen Neuzeit. Aktuellere und wahrscheinlich bekanntere Literatur wie z. B. Stefan Zweigs ‘Schachnovelle’ oder Walter Trevis ‘Das Damengambit’ (wobei Letzterer Amerikaner ist) finden keine Erwähnung. Dennoch lohnt sich ein Blick in dieses durchaus spannende und kurzweilig geschriebene Werk.
Worum geht es? Im Wesentlichen werden fünf Schach-Poeme behandelt:
- ‘Scachs d’ Amor’ von Fenollar, de Castellvi und Vinyoles (ca. 1470)
- ‘Scacchia ludus’ von Marco Antonio bekannt als Vida (1527)
- ‘Szachy’ von Jan Kochanowsky (ca. 1564)
- ‘L’ Adone’ von Gaimbattista Marino (1623)
- ‘Caissa’ von William Jones (1763/1772)
Allen gemeinsam ist, dass eine Partie Schach beschrieben wird, die allerdings Auswirkungen auf das Leben, genauer gesagt die Liebe zwischen zwei Wesen, mal Mensch, mal Gott, mal Mythische haben.
Bevor Aumüller seine Analysen beginnt, blickt er zunächst zurück in die Vergangenheit zu den Ursprüngen und der Geschichte des Schachs. Entstanden in Indien verbreitete es sich in Richtung Westen und hatte eine erste Blüte in Persien (man erinnere sich: der Persischer Herrscher, der Schah, muss lediglich um ein “c” ergänzt werden, um dem Spiel seinen Namen zu geben). Das erste Zeugnis des Schachs in Europa findet Aumüller in Einsiedeln in der Schweiz. Es handelt sich um ein Fragment, das als Einband eines anderen Buches “recycelt” wurde. Die Fundstelle (ein christliches Kloster) bietet Aumüller Gelegenheit, sich um das uneindeutige Verhältnis zwischen den Spielern (den Mönchen) und der Haltung der Kirche dazu Gedanken zu machen. Der nach seinem Autor benannte Cassolis-Komplex wird höchst spannend ausgebreitet, indem die damalige Gesellschaft allegorisch mit den verschiedenen Schachfiguren in Zusammenhang gebracht wird. Weitere mittelalterliche Fundstellen (z. B. ‘Les échecs amoureux’) führen dann schon in Richtung der danach ausführlich behandelten Poeme, da hier bereits die Allegorie zwischen Schach und Liebe auftaucht.
Mit diesem Blick in die mittelalterliche Vergangenheit des Schachs wird eine weitere Erkenntnis offenbar: Die Regeln, nach denen Schach gespielt wird, haben sich im Laufe der Zeit, zumindest was die Macht der ‘Dame’ angeht, gewaltig geändert.
Im ersten ausführlich vorgestellten Poem, dem Katalanischen ‘Scach d’amor’, gelten bereits die Regeln, wie wir sie heute noch kennen. Die Gegner sind hier Mars und Venus, und der antike Mythos des Ehebruchs von Mars und Venus wird anhand einer Schachpartie symbolisiert (d. h. das ‘Matt’ am Ende steht für den Geschlechtsakt). Aumüller analysiert sehr intensiv die Syntax und Numerologie des Poems und schließt auf eine mögliche Intention: Die Vermittlung zwischen Vergnügen (dem Spiel) und christlichem Lebenswandel.
Das zweite Poem von Vida entstand in der Renaissance in Italien, daher verwundert es nicht, dass die Szene an der griechischen Mythologie angelehnt ist: auf einer göttlichen Hochzeit spielen Apoll und Merkur eine Partie Schach. Dabei spielen die Emotionen mit und beide versuchen, mit etlichen Tricks zu ihren Gunsten zu intervenieren (das Tricksen ist also schon früh thematisiert worden, was manchen Vereinsspieler beruhigen wird). Merkur gewinnt letztlich und bringt das Schach nach Italien.
Das nächste Poem, ‘Szachy’ des Polen Jan Kochanowsky, enthält die Darstellung einer Schachpartie, die eine direkte Wirkung auf das Liebesleben zweier Menschen haben soll: Es spielt am Hofe des Dänenkönigs; dessen Tochter Anna soll vermählt werden. Die beiden Bewerber sind bereit, sich zu duellieren, doch um das zu verhindern, schlägt der König eine Schachpartie für die Entscheidungsfindung vor. Es sieht also so aus, als wenn die Tochter selbst kein Mitspracherecht hat. Während der Partie entsteht nach und nach ein materielles Übergewicht des Führers der weißen Steine und es droht Matt im nächsten Zug. Schwarz möchte dies nicht eingestehen und grübelt und grübelt und bittet um eine Vertagung auf den nächsten Tag. Das Brett bleibt also im Raum stehen, und Anna schaut sich des Nachts die Stellung an und dreht den Turm (der als Elefant dargestellt ist) um, so dass er in Richtung des rettenden Feldes zielt. Schwarz kommt am nächsten Morgen ohne viel Hoffnung zurück ans Brett, erkennt aber die Veränderung und die Kombination, die zum zwingenden Matt von Weiß führt. So bekommt die Königstochter doch noch Einfluss auf die Wahl ihres Angetrauten.
Das nächste Gedicht führt uns ins Barock Italiens. Giambattista Marino (der dafür bekannt ist, den barocken Manierismus noch zu überbieten – daher auch die Stilrichtung Marinismus), lehnt sich eng an Vidas Schachgedicht an, ergänzt dies jedoch um zahlreiche Facetten, die Aumüller nur andeutet: Man hat den Eindruck, dass selbst dem Historiker diese Fülle zu viel ist. Das Schachspiel selbst, das im Poem vorkommt, hat dann auch ein paar Eigenheiten, die Interpretationsspielraum lassen. Es soll zunächst im Rahmen der ‘Beziehung’ zwischen Adonis und Venus der Ablenkung dienen, da Adonis jedoch das Schachspiel nicht beherrscht, spielt zunächst Merkur gegen Venus und erläutert Adonis die Regeln. Dann, mitten im Spiel, übernimmt Adonis, kommt aber bald in Bedrängnis und droht zu verlieren. Was tut ein ehrgeiziger Spieler in solchen Fällen? Er betrügt; in diesem Fall mit Hilfe einer Nymphe, und plötzlich sind zwei bereits geschlagene Figuren wieder auf dem Brett. Venus erkennt natürlich den Betrug und fegt in ihrem Ärger alle Figuren vom Brett, bestraft die Nymphe, indem sie ihr mit dem Schachbrett den Schädel spaltet. Dass die Nymphe aus Mitleid zur Schildkröte verwandelt wird und durch Aufspannen von Saiten darauf zur Leier, ist ein Beispiel, wie Marino die Geschichte ausschmückt, ganz im Sinne des Barock.
Das letzte Poem schließlich ist vielen Schachvereinen namengebend: ‘Caissa’ von William Jones. Es entstand 1763 in England (da war der Autor erst 17) und ist Bestandteil einer größeren Sammlung von Gedichten. Das Poem spielt wiederum in der antiken Mythologie und handelt von Mars, der das Herz der schönen Baumnymphe Caissa erobern möchte. Dazu erfindet er ein Spiel, bei dem eben nicht Glück entscheidet, sondern der Verstand. Als Faun bringt er das Spiel zu Caissa, und diese ist begeistert, so dass Mars sich traut, ihr in seiner wahren Gestalt gegenüberzutreten, das Happy End ist nah. Die anschließende Schachpartie wird dann aber nicht von Caissa/Mars gespielt, sondern von den Nymphen Delia und Sirena und ist von den Zügen nur angedeutet; man kann noch erkennen, dass es sich um ein Königsgambit handelt muss. Anders als im ‘Adonis’ spielen Betrügereien hier keine Rolle und die Schönheit des Spiels steht im Vordergrund. Dass es Weiß ist, die gewinnt, wird auch als Beleg gedeutet, dass es bei Schach um Reinheit, Schönheit etc. geht, und dass dies das Entscheidende für Caissa ist.
Neben den auch für den Schachlaien amüsant nachzuvollziehenden Schachpartien (zu der von Kochanowsky gibt es sogar ein Stellungsdiagramm) enthält der Text interessante Informationen zur literaturgeschichtlichen Bedeutung der jeweiligen Dichtung sowie eine umfangreiche Beschreibung der biographischen Hintergründe der Autoren. So beleuchtet Aumüller z. B. die Figur des Autors William Jones, um nachvollziehbar zu machen, wie er in so jungen Jahren zu solch litera- rischen Leistungen fähig war. Außerdem wird der literaturgeschichtliche Kontext (insbesondere Barock, Klassizismus) erläutert, um die Werke einordnen zu können. So lernt der Leser quasi nebenbei viele literaturwissenschaftliche Details kennen und verstehen. Dabei ist die Sprache Aumüllers durchaus nicht abgehoben; im Gegenteil, er verwendet eine lebendige Sprache, geht immer wieder in den Dialog mit dem Leser und sorgt damit für ein Lesevergnügen, dass ich bei einem (zumindest zeitlich) so fernliegenden Stoff nicht erwartet hätte.
Bleibt nur zu hoffen, dass der Autor sein Versprechen, “diesen Wandlungen (damit sind die des Schachmotivs gemeint) noch auf die Spur zu kommen” wahrmacht.
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